Governance in verteilten Netzwerken

15.10.2019

Episode 13 herunterladen

Blockchain-Protokolle benötigen gelegentlich ein Upgrade – sei dies zur Fehlerbehebung, zur Protokollverbesserung oder zur Integration zusätzlicher Funktionen. Da ein System nur so dezentral ist wie sein am wenigsten dezentraler Teil, besteht die einzige Lösung für eine genehmigungsfreie Governance darin, jedem Netzwerkteilnehmer die Möglichkeit zu geben, Upgrades vorzuschlagen. Nach eingehender Diskussion eines Vorschlags in der entsprechenden Krypto-Community wird das Upgrade genehmigt oder abgelehnt und dementsprechend im Protokoll umgesetzt.

Das Schöne an dezentralen Open-Source-Systemen ist, dass niemand gezwungen wird, eine Veränderung zu genehmigen, die ein Dritter unbedingt durchsetzen will. Wer mit der Änderung nicht einverstanden ist, kann eine eigene Version der Kryptowährung in eine Fork abspalten – wie in der Vergangenheit bei der Abspaltung von Ethereum zu ETH und ETC oder mit den verschiedenen Bitcoin-Forks (wie Bitcoin Cash oder seine Fork Bitcoin SV). Letztlich sind es die Marktteilnehmer, die ihre Meinung über die Zukunft einer bestimmten Blockchain-Fork zum Ausdruck bringen, indem sie die Coins dieser Fork kaufen. Wie in Episode 8 von Bitcoin Suisse Decrypt erwähnt, bilden alle Märkte unsere Vorhersagen für die Zukunft ab. Die relativen Fork-Preise können somit als Momentaufnahme der aktuellen Marktsicht auf die langfristige Wertverteilung gesehen werden. Anleger, die die Einschätzung, wie nützlich eine Fork (d. h. ein Protokollwechsel) langfristig sein wird, nicht teilen, können Coins dieser Fork verkaufen (bzw. kaufen).

Dezentrale Governance in der Praxis
Es kann zwischen zwei Arten dezentraler Governance unterschieden werden: Die erste Art, die Governance auf Protokollebene, umfasst Governance-Mechanismen, die das zugrunde liegende Blockchain-Protokoll direkt beeinflussen – zum Beispiel durch Änderung der Konsensregeln. Die zweite, die Application Layer Governance, steht für Governance-Strukturen, die in einer auf einem Blockchain-Protokoll basierenden Anwendung implementiert werden. Ein Beispiel für Application Layer Governance sind Dezentrale Autonome Organisationen (DAOs) wie etwa MakerDAO. Die Governance der Anwendungsebene ist vom zugrunde liegenden Protokoll getrennt – so etwa hat eine Änderung der Stabilitätsgebühr für Collateralized Debt Positions keine Auswirkungen auf das Ethereum-Protokoll insgesamt.

Bei Bitcoin gibt es keine tatsächliche On-Chain-Governance. Bitcoin-Improvement-Proposals (BIPs) sind der erste Schritt bei der Implementierung eines Software-Upgrades. Der Prozess ist stark an das Äquivalent in der Community der Programmiersprache Python angelehnt. Die BIP-Autoren sind dafür verantwortlich, Rückmeldungen der Community zu ihren Vorschlägen einzuholen. Nach eingehender Bewertung wird der Vorschlag entweder angenommen oder abgelehnt. Angenommene Vorschläge werden sodann umgesetzt, und die Miner signalisieren ihre Bereitschaft, auf die aktualisierte Software umzustellen. Dieser Prozess wurde nach dem Start des Bitcoin-Netzwerks etabliert und ist nicht fest im Protokoll selbst kodiert. Das Protokoll liefert lediglich die notwendigen Werkzeuge für die Signalisierung durch die Miner.

Der Prozess für Ethereum-Improvement-Proposals (EIPs) verläuft ähnlich. Im Ethereum-Protokoll gibt es jedoch auch einen Mechanismus für die On-Chain-Governance: Die Miner können darüber abstimmen, ob sie die Blockgrösse (das Gas Limit) entsprechend den aktuellen Anforderungen des Netzwerks erhöhen oder verringern wollen. Dadurch ist es nunmehr möglich, die Auswirkungen plötzlicher Netzwerknutzungs-Sprünge abzumildern, bis bessere Skalierbarkeitslösungen bereitstehen.

Tezos, ein neues Blockchain-Protokoll, das 2017 mehr als 200 Mio. USD auf sich vereinte, hat die On-Chain-Governance von Anfang an formeller in das Protokoll implementiert. Bei Tezos können Delegierte in einem bestimmten Zeitraum Vorschläge zur Protokolländerung einreichen. Danach stimmen die Delegierten darüber ab, ob dem Vorschlag für eine Test Chain gefolgt werden soll oder nicht. Bei positivem Abstimmungsergebnis wird die Änderung der Test Chain für 48 Stunden umgesetzt. Wenn die Delegierten mit der Änderung weiterhin zufrieden sind und für den Vorschlag stimmen, wird dieser dann im Hauptzweig von Tezos aktiviert. Der formalisierte Prozess kann in Echtzeit nachverfolgt werden und soll helfen, einen sozialen Konsens über die Zukunft des Netzwerks zu finden. Cosmos, eine Blockchain, die auf Skalierbarkeit und Interoperabilität ausgerichtet ist, verfügt für das On-Chain-Voten über ähnliche Mechanismen. Bei Dash, einer frühen Fork von Bitcoin, stimmen Master-Knoten über Vorschläge ab. Das Ergebnis hat jedoch keine sofortige Wirkung auf die Dash-Blockchain. Stattdessen müssten vereinbarte Ergebnisse von den Programmierern kodiert werden, damit ein neues Update der Software freigegeben werden kann, und die Knoten müssen entscheiden, ob sie aktualisieren möchten oder nicht. 10% der monatlichen Blockprämien gehen direkt an die vorgeschlagenen Adressen, die für den Erhalt der Prämien ausgewählt wurden.

Dies sind zwar Beispiele für die Governance auf Protokollebene, aber ein Beispiel für die Governance auf Anwendungsebene sind MakerDAO und deren Token MKR. MKR-Inhaber stimmen unter anderem über die Anhebung oder Senkung der Stabilitätsgebühr ab und werden in Zukunft auch für die Abstimmung über zusätzliche Sicherheitentypen für Multi-Collateral Dai oder über die Dai-Savings-Rate verantwortlich sein. Ein Thema bei MakerDAO-Abstimmungen ist die notorisch niedrige Wahlbeteiligung. MKR-Anleger haben mehrere Online-Handlungsaufforderungen gestartet, um die Beteiligung zu steigern. MKR-Polls erzielen im Durchschnitt eine Wahlbeteiligung zwischen 1% und 4%. Dash-Polls hingegen haben 2019 durchschnittlich zwischen 15% und 30% erreicht.

Ist die Abstimmungsbeteiligung für Anleger relevant?
Demokratische Governance-Modelle nach dem Motto “One Voice – One Vote” leiden unter demselben System wie bürgerliche Abstimmungen, da die Teilnehmer an einem solchen Ökosystem keinen genügenden finanziellen Anreiz zur Abstimmung haben. Eine wichtige Frage in der wissenschaftlichen Literatur zur öffentlichen Politik ist die Gestaltung von Anreizen, anhand derer die Abstimmungsbeteiligung gesteigert werden kann. Kenneth Arrow wurde 1972 für seine Arbeit zur Gestaltung von Sozialwahlen, die seither als Unmöglichkeitstheorem bekannt ist, mit dem Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.

Gemäss Untersuchungen aus dem geografisch näheren Umfeld, dem Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance, ist die Wahlbeteiligung in Unternehmen höher, in denen der Verwaltungsrat grosses Eigeninteresse hat.. Dies würde zu folgender Hypothese führen: Kryptowährungen mit dezentralen Governance-Modellen, die Anleger dazu veranlassen, mehr Eigeninteresse einzubringen, könnten theoretisch Anreize für eine höhere Wahlbeteiligung und insgesamt für eine bessere Protokoll-Governance setzen, indem sie die Schwarmintelligenz stärker nutzen. Die Wahlbeteiligung kann im Wesentlichen auf zwei Arten gemessen werden: 1.) Durch die Anzahl der Einzelwähler, die über einen Vorschlag abgestimmt haben, im Vergleich zur Gesamtzahl der Einzelwähler im System. 2.) Durch die Anzahl der abgegebenen Stimmen im Vergleich zur Gesamtzahl der abzugebenden Stimmen im System.

Wichtig ist dies deshalb, da die meisten demokratischen Länder weltweit erstere Zählung verwenden, während die meisten Kryptowährungssysteme letztere nutzen. Jeder Tezos-Bäcker erhält zum Beispiel je nach Staking-Ergebnis eine bestimmte Anzahl von Stimmen. Als Tezos-Bäcker am 20. März 2019 über die Erhöhung der Gas Limit der Tezos-Blockchain abstimmten, betrug die Beteiligungsquote auch ohne die Stimmen der Tezos-Stiftung, die sich freiwillig enthalten hatte, überwältigende 48,3%. Die Tezos-Abstimmungsbeteiligung wird als Anzahl der abgegebenen Stimmen aus den insgesamt verfügbaren Stimmen berechnet. Bäcker mit mehr gestakten Tezos erhalten jedoch mehr Stimmen. Das bedeutet, dass in dieser Abstimmungsbeteiligung die Anzahl der Einzelwähler, die über diesen Vorschlag abstimmen, gar nicht berücksichtigt wird. Laut TezosAgora stimmten nur 159 von 458 Bäckern über den Athens-Vorschlag ab, was eine Einzelwählerbeteiligung von 34% ergab. Gleiches gilt für die MKR-Token von MakerDAO und die Dash-Masterknoten.

Das ist aber längst nicht alles. Eine dezentrale Kryptowährung mit hoher Beteiligung, aber einer sehr geringen Gesamtzahl von Wählern könnte im Vergleich zu einer dezentralen Kryptowährung mit geringer Beteiligung, aber einer sehr grossen Anzahl von Wählern eine geringere Vielfalt an Hintergrundwissen und Erfahrungen aufweisen. Um die Wahlbeteiligung von Governance-Modellen auf Protokoll- und Anwendungsebene zu untersuchen, können die Blockchain-Explorer Daten zu den früheren Vorschlägen jeder Kryptowährung und deren Ergebnissen sammeln. Bei den relevanten Variablen handelt es sich um die Gesamtzahl der Einzelwähler, die an jeder Abstimmung teilnehmen und die in die Wahlbeteiligung eingehen. Die Zahl der Einzelwähler ist jedoch nur ein Näherungswert für die wahre Zahl der individuellen Wähler, da ein Wähler von mehreren Adressen aus abstimmen kann. Fazit: Tezos oder Cosmos werden oft als Beispiele für Protokolle mit On-Chain-Voting genannt. Token von DAOs (wie MKR von MakerDAO) hingegen wirken sich nur auf die Anwendungsebene aus. Schliesslich gibt es noch eine locker gekoppelte “informelle Governance” der Änderungen auf Protokollebene, wie sie die Governance-Modelle von Bitcoin oder Ethereum praktizieren. Trotz der wenigen verfügbaren Daten scheint es so zu sein, dass Governance-Modelle mit On-Chain-Voting wie bei Tezos eine hohe Wahlbeteiligung aufweisen. Andere Kryptowährungen wie Dash scheinen indessen über ein grösseres Netzwerk von Einzelenscheidungsträgern zu verfügen. Je mehr Daten verfügbar sind, desto besser können Anleger diese Informationen für ihre Anlageentscheidungen nutzen, indem sie den Zusammenhang zwischen den verschiedenen dezentralen Governance-Mechanismen und dem Marktpreis der Kryptowährung auf statistisch signifikante Muster untersuchen.

Abbildung 1: Die Wahlbeteiligung im Jahr 2019 ist bei Tezos am höchsten, gefolgt von Dash und MKR (oben). In Bezug auf die individuellen Wähleradressen, die in einer Wahlumfrage im Oktober 2019 aktiv waren, liegt Dash vorn, gefolgt von Tezos und MKR (unten).

Quelle: tezosagora.org, vote.makerdao.com, mnowatch.org, Incrementum AG.

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