Bitcoin, Menschenrechte und die ESG-Debatte
07.02.2022
Alex Gladstein
Chief Strategy Officer der Human Rights Foundation
Alex Gladstein ist Chief Strategy Officer der Human Rights Foundation. Er fungiert zudem als Vice President of Strategy für das Oslo Freedom Forum seit seiner Gründung 2009. Im Rahmen seiner Tätigkeit hat Alex Hunderte von Dissidenten und zivilgesellschaftliche Gruppen mit Wirtschaftsführern, Technologen, Journalisten, Philanthropen, politischen Entscheidungsträgern und Künstlern zusammengebracht, um eine freie und offene Gesellschaft zu fördern. Alex Texte und Ansichten zu Menschenrechten und Technologie sind in Medien auf der ganzen Welt erschienen, darunter The Atlantic, BBC, CNN, Fast Company, The Guardian, Monocle, The New Republic, The New York Times, NowThis, NPR, Quartz, TIME, The Wall Street Journal und WIRED. Alex hat an Universitäten von MIT bis Stanford gesprochen, Vorträge vor dem Europäischen Parlament und dem US-Aussenministerium gehalten und weltweit an Veranstaltungen der Singularity University teilgenommen, wo er als Dozent tätig ist und Vorträge über Bitcoin und die Zukunft des Geldes hält. Alex lebt derzeit in der Nähe von San Francisco.
Interviewt von Marcus Dapp
Marcus Dapp (MD): Bevor wir tiefer in das Thema einsteigen – in welchem Bereich ist die HRF aktiv und was ist Ihre Rolle?
Alex Gladstein (AG): Die Human Rights Foundation ist eine 2005 gegründete Bürgerrechtsorganisation mit Sitz in New York. Wir arbeiten an der Förderung von bürgerlichen Freiheiten in autoritären Regimen weltweit. Ich leiste als Chief Strategy Officer Unterstützung in den Bereichen Wachstumsentwicklung, Fundraising, Marketing und externe Partnerschaften. Ich bin seit fast 15 Jahren bei HRF und arbeite sehr eng mit all unseren Programmen zusammen, wobei ich mich insbesondere auf den Schnittpunkt von Technologie und Menschenrechte konzentriere.
MD: Wie ist die aktuelle Lage der Menschenrechte weltweit, während unsere Gesellschaften diesen digitalen Wandel durchlaufen? Welche Rechte verbessern sich und welche werden durch den Prozess beeinträchtigt?
AG: Der Übergang zu einer vollständig elektronischen Welt und die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren und interagieren, gefährden die meisten Grundrechte
wie Meinungsfreiheit, Recht auf Eigentum, Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Mitmenschen, Versammlungsfreiheit und Recht auf Privatsphäre. All diese Freiheiten sind in Gefahr, da Regierungen nun in der Lage sind, vernetzte Computer zu nutzen und riesige Datenmengen zu analysieren.
Wie Sie wissen, ist die moderne Gesellschaft so aufgebaut, dass all diese Informationen preisgegeben und die verschiedenen Freiheiten gegen Anwenderfreundlichkeit, Geschwindigkeit und Komfort eingetauscht werden.
Beim Übergang zur elektronischen Gesellschaft wird die “natürliche Ordnung der Dinge” durch Zentralisierung und Überwachung geprägt sein. Aber glücklicherweise gibt es etwas, was dieses Machtverhältnis im positiven Sinne stört, nämlich die Verschlüsselung. Der Einzelne hat die Möglichkeit, privat mit anderen unter Verwendung einer Codierung zu kommunizieren, die ein Ausspähen selbst der mächtigsten Regierungen verhindert. Die dadurch entstandene starke Asymmetrie hat in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass die Macht auf den Einzelnen zurückverlagert wird. Und nun ist daraus eine Supermacht geworden.
Darauf bauten die Cypherpunks ihr Vermächtnis auf. Ihr Ziel bestand darin, digitales Bargeld zu schaffen. Und eben das ist Bitcoin, der von Satoshi erschaffen wurde: digitales Bargeld. Für mich ist dies eine bahnbrechende Erfindung, denn sie hilft uns dabei, uns dem Überwachungsstaat entgegenzustellen und ein anderes politisches Wirtschaftsmodell vorzustellen. Und hierbei handelt es sich nicht um das Modell nach 1971, an das wir so gewöhnt sind, das aber dem Einzelnen nur seine Freiheiten nimmt. Bei meiner Tätigkeit bei der HRF beobachte ich zwei Phänomene: eine zunehmende weltweite Überwachung, aber auch eine steigende Willkür der staatlichen Macht über das Geldsystem. Aufgrund dieser beiden Phänomene sind Bitcoin und eine globale Bewegung von Menschen entstanden, die friedlich dagegen Widerstand leisten.
MD: Die meisten Menschen nutzen Geld einfach: Sie halten es für ein neutrales Instrument, das ihnen ausschliesslich dazu dient, Geschäfte zu tätigen. Viele können nicht erklären, was Fiatgeld ist, geschweige denn diese Geldart in Frage stellen. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach das Fiatgeldsystem für Nationalstaaten heute?
AG: Es ist vor allem wichtig, zu erkennen, dass Geld nicht neutral ist. Er ist beeinflussbar, hat Präferenzen und begünstigt diejenigen, die es schöpfen. Das ist ein grosser Unterschied zu der Welt, in der wir früher gelebt haben. Es darf nicht vergessen werden, dass in einer modernen Wirtschaft nicht unbedingt der Staat das gesamte Geld schöpft, selbst wenn die Banken eigentlich schon seit langem Geld schaffen. Vieles von dem, was wir als Geld bezeichnen würden, wurde in erster Linie vom Privatsektor geschaffen. Dann sind da Kredite, Zahlungsversprechen und die Finanzstruktur insgesamt, die über allem steht.
Bis zum Ersten Weltkrieg und wohl sogar bis 1971 hatte zumindest das System, durch das die Nationen auf geopolitischer Ebene miteinander interagierten, eine reale Grundlage. Der Zahlungsverkehr der Staaten vor dem Ersten Weltkrieg und in geringerem Masse auch noch rund um 1971 beruhte auf dem Konzept, dass Schulden in Gold beglichen werden konnten.
Früher war Gold das ultimative monetäre Gut. In den ersten 60 Jahren des 20. Jahrhunderts begann dann die Hetze auf Gold, es wurde vertrieben und absichtlich – vor allem von der US-Regierung – entwertet und durch amerikanische Schuldtitel ersetzt. Die US-Schuldtitel wurden zum höchsten monetären Gut, zum “US Treasury”, zum Sparinstrument für andere Staaten und zur hochkarätigen Sicherheit für die Finanzmärkte. Gold wurde also als risikoloser Vermögenswert von amerikanischen Schuldtiteln abgelöst. Dieser Prozess hat wahrscheinlich im Ersten Weltkrieg eingesetzt und wurde in den 1930er Jahren beschleunigt vorangetrieben. 1944 kehrten wir in Teilen zum Goldstandard zurück, während Roosevelt das Gold im Inland vollständig demonetisierte.
Denn den USA wurde bewusst, dass es sich lohnen würde, ein System zu schaffen, bei dem der Dollar weltweit verwendet wird. Sie überzeugten die Menschen von ihrem Vorgehen, indem sie 1944 zusicherten, dass der Dollar zu einem festen Satz – USD 35 pro Unze Gold – gegen Gold eingelöst werden konnte. Die Leute glaubten uns Amerikanern und wir versuchten lange, diese Anbindung beizubehalten.
Am Anfang war dies einfach, da die USA eine grosse Gläubigernation waren und einen Zahlungsbilanzüberschuss verzeichneten. Das änderte sich jedoch im Kalten Krieg, und mit dem Koreakrieg entwickelten wir uns zu einer Schuldnernation. Schon Ende der 1950er Jahre wurde es immer schwieriger, diese Beziehung, diese Anbindung zu aufrechtzuhalten. In den 1960er Jahren mussten wir dann Preisabsprachen mit anderen Regierungen für den Londoner Goldpool vornehmen, der dann schliesslich kollabierte. Ab 1971 konnten wir unseren Schuldendienst gar nicht mehr leisten. Die von anderen Ländern gehaltenen kurzfristigen Dollar-Verbindlichkeiten in Höhe von USD 50 Mrd. entwickelten sich von Schuldscheinen im Sinne von “Ich schulde dir Gold” zu “Ich schulde dir nichts” – hier gibt es nichts zu holen. Die US-Schulden flossen zurück in die Geldbasis.
Das hatte weltweit tiefgreifende Folgen, die sich an der Entwicklung der sozialen Indikatoren ab den 1970er Jahren ablesen lassen: die Ungleichheit, der Aufstieg der reichsten 1 %, stagnierende Löhne, explosionsartig steigende Aktienkurse, der Anstieg und die Verteuerung des Lebensstandards, die den durchschnittlichen Arbeiter stark belasten, gegenüber einem obszönen Reichtum, das von 1 % der Bevölkerung angehäuft wurde. In der Folge traten in den letzten 50 Jahren folgende Ereignisse ein: die Finanzialisierung der Welt, die Aushöhlung der amerikanischen
Wirtschaft. Das alles ist dem Fiatgeld zu verdanken.
Meiner Meinung nach geht es beim Fiatgeldsystem darum, die Handlungsfähigkeit der Regierungen einzuschränken, insbesondere in den USA. Die USA versorgen die Welt mit ihrem Sparinstrument in Form ihrer Schulden. Dies hat einige perverse Anreize geschaffen, die nicht nur in der amerikanischen Gesellschaft, sondern in der ganzen Welt durchgesickert sind.
Diese Ära scheint zwar nicht zu Ende zu gehen, aber sie bröckelt, und andere Länder beginnen vermehrt, in ihren eigenen Währungen untereinander Geschäfte zu tätigen. Der Dollar steht unter extremem Druck. Die Inflation hat einen Höchststand erreicht, der so seit den 1970er und vielleicht sogar seit den 1960er Jahren nicht mehr beobachtet wurde.
Für das Fiatsystem gibt es nur einen Ausweg aus dieser Situation, nämlich noch mehr Geld zu drucken.
Im vorhergehenden Währungszeitalter war das nicht möglich. Die Länder mussten vielmehr Vermögenswerte verkaufen, Abwertungen vornehmen, die Anbindung auflösen und ihre Ausgaben senken, es gab Konsequenzen. Heute sind wir im Wesentlichen in der “modernen Währungstheorie” angekommen, deren einzige Grenze die Inflation ist. Wie wird die Geldmenge heute reduziert? Durch Besteuerung. Dass dieser Weg nun gewählt wird, glaube ich aber nicht. Wir haben dieses Vorgehen ja schon einmal erlebt: Nixon hätte eine Abwertung vornehmen können. Der Dollar hätte gegenüber Gold neu bewertet werden können. Er war nicht gezwungen, sich für den Zahlungsausfall zu entscheiden. Aber dann wäre allgemein bekannt geworden, dass Nixon die Währung entwertet, und das wird eben nicht gern gesehen.
Heute haben wir denselben Fall: Die Regierung schiebt das Problem nur vor sich her.
Und wie wollen Sie Menschen letztlich davon überzeugen, in Ihre Schulden zu investieren? Dafür gibt es nur eine Option: Sie müssen die Zinsen erhöhen. Denn wer wird schon amerikanische Anleihen kaufen, die Negativrenditen abwerfen? Billionen von Dollar werden heute auf diese Weise investiert. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir immer so weiter machen können. Allgemein wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass ein Wechsel zu Bitcoin möglich ist.
Ich glaube, dass sich die Dynamik massiv ändern wird. Und bezüglich dem “Zinsniveau auf null” wünsche ich viel Glück, denn niemand wird solche Schuldtitel kaufen wollen! Heute investieren Menschen in diese Schuldtitel, da sie als risikofreier Vermögenswert gelten und Investoren bereit sind, dafür zu zahlen. Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass in den nächsten zehn Jahren ein psychologischer Wandel einsetzen wird und Staatsschulden allgemein als riskant wahrgenommen werden?
MD: Lassen Sie uns das an einem konkreten Beispiel veranschaulichen. In einem Land ist in diesem Jahr sozusagen ein “Blitz” eingeschlagen. Nämlich in El Salvador, was auf Englisch “der Retter” bedeutet. Wovor würde Bitcoin das Land schützen?
AG: Bitcoin hat eine völlig andere Struktur als Fiatgeld. Als Geldmittel erhöht es langfristig Ihre Kaufkraft als Beschäftigter. Ihr Lohn wird mit der Zeit steigen, wenn Sie Bitcoin als Sparinstrument nutzen.
Das ist etwas völlig anderes als die aktuelle Situation, in der die Löhne sinken. Die Zeit und Energie, die Sie aufbringen, verliert im Zeitverlauf sehr schnell an Wert. Mit Bitcoin steigt ihr Wert. So einfach ist das. Wenn die Salvadorianer zu dieser Wirtschaftsform übergehen, werden sie weitgehend davon profitieren. Sie verfügen nicht nur über den Vermögenswert selbst, sondern werden auch den Lebensstil, die Technologie und das Know-how haben.
Andere Länder werden El Salvador bitten, die Umsetzung zu erläutern, so als ob das Land über enormes Fachwissen und Know-how verfügen würde, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Es lässt sich viel über den Herrscher des Landes sagen, den ich für antidemokratisch halte. Aber die Entscheidung, Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel einzuführen, ist etwas anderes. El Salvador hätte sich auch für eine von China kontrollierte Coin oder Gott weiss was entscheiden können. Die Entscheidung für ein offenes, dezentrales und knappes öffentliches Zahlungsmittel ist bemerkenswert. Und El Salvador wird nicht das letzte Land gewesen sein, das so vorgeht. Das Land wird enorme Vorteile daraus ziehen, was lustig ist, denn die Einführung gilt nach der ökonomischen Orthodoxie als wahnsinniges Risiko.
Alle anderen Länder werden Bitcoin auf die eine oder andere Weise einführen. Ob als Reservewährung oder als gesetzliches Zahlungsmittel weiss ich nicht. Aber dies wird unumgänglich sein.
MD: Die Kritik an Bitcoin hat mit der ESG-Debatte (Environmental, Social, Governance) eine besondere Wendung genommen: Bitcoin bringt den Planeten zum Kochen, verschwendet Energie, Proof-of-Work usw. Was halten Sie von der Meinung, dass Bitcoin gemäss den ESG-Kriterien schlecht für die Welt ist?
AG: Darauf antworte ich: Unser derzeitiges Fiatgeldsystem ist nicht nachhaltig und im Petrodollar verankert, also mit Öl verbunden. Wir brauchen daher ein anderes System, um unsere Abhängigkeit von Öl und fossilen Brennstoffen zu durchbrechen.
Bitcoin kann vollständig mit erneuerbaren Energien und Kernkraft betrieben werden, und mit einem Geldsystem, das auf erneuerbaren Energien basiert, sieht unser Planet einer strahlenden Zukunft entgegen. Das derzeitige Geldsystem wird mit fossilen Brennstoffen betrieben. Es baut auf diesem Verhältnis zur Energie auf. Eine ökologische Bewegung ist nicht mit einem Zahlungsmittel möglich, das von schwarzem Gold abhängig ist. Das passt einfach nicht zusammen.
Die allgemeine Meinung ist in der frühen Geschichte des Bitcoin-Minings steckengeblieben und wie das alles mit der chinesischen Kohle war. Die Situation heute ist eine ganz andere. China hat allen Minern den Laufpass gegeben. Ja, der Energiemix ist so, wie er ist. Trotzdem halte ich Bitcoin für viel umweltfreundlicher als die meisten anderen Branchen.
Zudem dürfen die Vorteile nicht vergessen werden, die Bitcoin Dutzenden von Millionen Menschen weltweit bietet. Wir sprechen hier von etwas, das im wahrsten Sinne des Wortes mehrere Millionen von Menschen auf der ganzen Welt handlungsfähig macht und das mit rund der Hälfte des CO2-Fussabdrucks der Kreuzfahrtindustrie.
Bitcoin ist also nicht nur recht effizient, was seine Auswirkungen im Vergleich zu seinen Leistungen angeht, sondern dürfte mit der Zeit auch ökologischer werden und die Beziehung zwischen Mensch und Energie völlig verändern. Ich wäre nicht überrascht, wenn Bitcoin-Mining künftig in unsere Häuser und unsere Netze integriert wird.
Mich begeistert insbesondere dieses elegante Nachfrage-Reaktions-Verhältnis, das Bitcoin erzeugt. Durch ausreichendes Bitcoin-Mining können Stromkrisen vermieden werden, wenn es aufgrund von Sturmkatastrophen zu Stromausfällen kommt. Bitcoin-Miner können einfach den Strom abschalten und auf das Netz umstellen.
Begrüssenswert ist zudem, dass Entwicklungsländer, die über all diese erneuerbaren Ressourcen wie Solarenergie, Windkraft und Geothermie verfügen, diese auch erschliessen können. Ihr massiver Bestand an erneuerbaren Ressourcen kann heute nicht genutzt werden, da es für Entwicklungsländer schwierig ist, die erforderlichen Finanzmittel für den Bau dieser Anlagen und deren Anschluss an das Netz zu finden. Indem Bitcoin geschürft wird, kann nun die entsprechende Finanzierung bereitgestellt werden. Mich begeistert dieser Aspekt der Energie.
MD: In der Debatte über Energie und Mining wird auch viel über Konsensmechanismen gesprochen. Ethereum setzt stark auf Proof-of-Stake. Wir wissen aber auch, dass Bitcoin weiterhin beim Proof-of-Work bleiben wird. Was denken Sie darüber? Generell soll der Proof-of-Stake ja viel energieeffizienter sein.
AG: Das ist meiner Meinung nach eine sehr oberflächliche Interpretation der aktuellen Ereignisse. Der Proof-of-Work stellt eine Möglichkeit dar, ein neues Finanzsystem zu schaffen. Der Proof-of-Stake ist ein Aspekt des bestehenden Finanzsystems, d. h. diejenigen mit dem grössten Kapital haben die Entscheidungsgewalt. Bei Bitcoin ist das nicht der Fall.
Nehmen wir an, eine Person hält Bitcoin im Wert von Milliarden Dollar und eine andere im Wert von lediglich USD 10, dann kann keine von beiden die Geldpolitik ändern. Vermögen verschafft keinen Vorteil. Milliardäre im Fiatsystem können von Rettungsaktionen profitieren und die Geldpolitik damit konkret beeinflussen. Mit dem Proof-of-Work soll ein neuer Standard, ein neues Paradigma geschaffen werden, bei dem alle vor den Augen des Gesetzes gleich sind.
Dafür muss Energie aufgewendet werden, und es wird meiner Überzeugung nach unsere Beziehung zur Energie verbessern. Es wird Anreize schaffen, mehr erneuerbare Energien freizusetzen, und wir werden uns auf eine viel intensivere Suche nach der billigsten und effizientesten Energie weltweit machen, die weder Kohle noch Öl sein wird.
Das bestehende Finanzsystem ist extrem umweltschädlich und sehr stark von fossilen Brennstoffen abhängig. Der Proof-of-Stake ändert daran überhaupt nichts, sondern ist lediglich eine Imitation des bestehenden Systems.
MD: Der zweite Aspekt der ESG-Kriterien ist der soziale Aspekt. Auf der einen Seite wird behauptet, dass Bitcoin ein Ponzi-System, eine Blase oder sogar mehrere Blasen sei. Andere wiederum sagen, es gehe um finanzielle Inklusion und Menschenrechte. Wie sehen Sie das? Welche sozialen Auswirkungen kann Bitcoin anstossen?
AG: Die sozialen Auswirkungen von Bitcoin sind weltweit spürbar. Dutzende Millionen von Menschen sind heute durch Bitcoin sozial besser gestellt. Bitcoin ermöglicht ihnen finanzielle Inklusion und Empowerment in weit grösserem Masse, als dies durch die ESG-Initiativen von Unternehmen erreicht werden kann. Beispielsweise werden im Unternehmenssektor keine ESG-Initiativen auf den Weg gebracht, die Menschen im ländlichen Sudan wirklich helfen. Und wahrscheinlich wird das auch nie passieren.
Wer im Sudan jedoch ein Mobiltelefon besitzt, kann sich mit Bitcoin vertraut machen und Bitcoin nutzen, um sich selbst vor der gierigen Inflation in diesem Land zu retten. Jeder Mensch weltweit kann Bitcoin verwenden. Die Kryptowährung ist unglaublich mächtig und die Investitionen, die im Bitcoin-Netzwerk getätigt werden, sind am rentabelsten.
Die von Ihnen genannten Kritikpunkte entsprechen nicht der Wahrheit. Der Bitcoin ist kein Ponzi-Schema. Es handelt sich hierbei nicht um eine Art Bernie Madoff, der das Geld entgegennimmt und es durch das Geld anderer Leute ersetzt. Das ist nicht der Fall. Alles in Bitcoin ist überprüfbar. Sie können das System und alle Transaktionen einsehen und die Prozesse genau nachverfolgen. Menschen steigen heute einfach aus dem Fiatsystem aus und gehen einen neuen Weg.
Und ihnen geht es dabei nicht unbedingt um Ideologien und Überzeugungen. Bitcoin wird vielmehr verwendet, da dies besser ist, als zum Postschalter zu gehen, genau wie heute E-Mails anstatt Briefe versendet werden. Menschen werden Bitcoin nutzen, da Bitcoin besseres Geld ist. Im Vergleich dazu ist der Gang zur Bank und die Tätigung einer Überweisung einfach lächerlich. Meiner Meinung nach werden nur schwache Argumente gegen Bitcoin bezüglich des sozialen Aspekts vorgebracht. Und es gibt massenhaft Belege dafür, dass Bitcoin ein mächtiges soziales Instrument ist.
MD: Kommen wir nun zur Governance: In einem Gespräch mit Saifedean Ammous haben Sie Argumente dafür vorgebracht, dass Bitcoin demokratisch ist (AG: Ja!), bezüglich Gewaltenteilung usw. Saifedean hingegen vertrat eher eine anarchistische Perspektive. Was halten Sie von diesem Gespräch?
AG: Das war ein sehr gutes Gespräch. Mein Punkt war, dass Bitcoin antiautoritär ist. Denn was bedeutet eigentlich Demokratie? Die “Herrschaft des Volkes”. Über Bitcoin herrschen die Menschen, nicht eine Regierung, nicht ein König und auch kein Diktator. Worauf ich hinauswollte, war, dass “Demos”, das “Volk” und der Begriff Demokratie genau auf Bitcoin zutreffen.
Der Sinn dieser ganzen Unterhaltung war lediglich zu zeigen, dass Bitcoin zwar keine Demokratie im Sinne einer Wahl ist, aber ein demokratisches Zahlungsmittel, denn ich glaube, dass bei Bitcoin die Menschen die Herrschaft haben und nicht etwa ein Diktator, König oder Tyrann. Das ist meine These.
MD: Würden Sie sagen, dass es einfacher ist, für Bitcoin in einem autoritären Regime zu werben als in westlichen liberalen Demokratien? Warum sollten sich Ihre oder meine Mitbürger/innen über mögliche “Aufwärtstrends» hinweg für Bitcoin interessieren?
AG: Alles in allem ist Bitcoin für jeden aus den gleichen Gründen wichtig, es ist nur eine Frage der Dringlichkeit. In Diktaturen sind “Recht und Ordnung” zusammengebrochen und eine Geheimpolizei regiert alles. Diese Systeme unterscheiden sich also von einem System, in dem noch Recht und Ordnung herrscht, wie in Deutschland oder der Schweiz.
Allmählich nimmt aber auch bei uns die Kontrolle durch Regierungen und Unternehmen über Geld, Konsumgewohnheiten und Konsumverhalten, ja, über unser aller Leben zu. Mit Bitcoin können wir dieses übergriffige Verhalten überprüfen. Wir verfügen über digitales Geld, über ein Parallelsystem, das nicht unter staatlicher oder unternehmerischer Kontrolle steht. Am wichtigsten ist jedoch, dass wir eine Währung haben, die nicht willkürlich entwertet werden kann. All diese Dinge sind sehr, sehr wichtig, auch wenn wir in einem reichen Land leben.
Sie sind für jeden von Bedeutung, egal ob es um den Datenschutz, finanzielle Freiheit oder Werterhalt von Erspartem geht. Alles ist wichtig. Sie wollen Ihr Geld auf einer Bank in Europa hinterlegen? Dann müssen Sie mit Negativzinsen rechnen, nicht wahr? Was würden Sie also davon halten, keinen Negativzins zahlen zu müssen? (lacht) Was wäre, wenn ich mein Geld nicht der Bank gebe, sondern es stattdessen in Bitcoin halte und beobachten kann, wie es langfristig an Wert gewinnt? Ich glaube, dass immer mehr Menschen langsam verstehen werden, warum Bitcoin so mächtig ist.
MD: Wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringen wird. Für Bitcoin scheinen viele Szenarien möglich. Lassen Sie uns über zwei Extreme sprechen. Eines besteht darin, dass Regierungen versuchen, Bitcoin zu verbieten oder zu stoppen. Was denken Sie über ein Verbot?
AG: Ich glaube nicht, dass Bitcoin noch aufzuhalten ist, aber Verbote sind sehr wahrscheinlich! Tatsächlich werden ständig solche Verbote erlassen. Die chinesische Regierung hat gerade erst das Mining verboten, die norwegische Regierung droht ebenfalls damit und die nigerianische Regierung untersagt weitgehend die Verwendung von Bitcoin, indem sie Bankkonten einfriert, die mit Kryptowährungshandelsplattformen verbunden sind. Es gelten bereits alle möglichen Einschränkungen. Und wir müssen mit einer Vermehrung aller Arten von Beschränkungen und Verboten rechnen.
Aber sie werden nicht funktionieren! Die Regierungen können versuchen, was sie wollen. Sie können nichts dagegen machen. Bitcoin ist eine Idee, ein unsichtbarer Vermögenswert, der ohne staatliche Eingriffe gehandelt werden kann. Ich glaube, dass die Regierungen letztlich erkennen werden, dass sie auf dem Holzweg sind, und auch, wie sie von Bitcoin profitieren können.
El Salvador ist ein Paradebeispiel, aber auch die vielen US-Bundesstaaten, Städte wie Miami, der neue Bürgermeister von New York City, Bundesstaaten wie Texas und Wyoming. Es gibt sogar Regierungen wie in Singapur, in der Schweiz oder Norwegen, deren Staatsfonds, also ihre Ersparnisse, entweder direkt in Bitcoins oder in Bitcoin-Unternehmen oder -Vermögenswerte investiert sind.
Dieser Trend wird sich verstärken und drakonische Verbote, die nichts bringen, werden zurückgehen. Versuche können natürlich gestartet werden, aber sie werden einfach nicht funktionieren.
MD: Das andere Szenario wäre die “Hyperbitcoinisierung”, auf die sich viele Bitcoiner freuen. Wann wird sie Ihrer Meinung nach eintreten? Wie wird sie aussehen? Was geschieht mit Fiatwährungen, wie reagieren Nationalstaaten?
AG: Wahrscheinlich werden wir in einer Übergangsphase zu einer Art Goldstandard zurückkehren, bei dem die Regierungen ihre Währung zu einem bestimmten Kurs an Bitcoin binden. Ich kann nicht abschätzen, wie lange diese Phase dauern wird. Bitcoin ist schliesslich kein Gold. Doch Gold ist eben kein effizientes Tauschmittel und für den Handel recht ungeeignet: Menschen möchten Gold aufbewahren, müssen es aber gegen Diebstähle schützen.
Bitcoin ist ein sehr elegantes Tauschmittel.
Wenn dieses erste Zugeständnis einmal gemacht wurde, ist nicht absehbar, wie lange sich das Fiatsystem noch halten kann. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir irgendwann in einer Welt leben werden, in der wir nur noch mit Bitcoin und Bitcoin-Instrumenten interagieren. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Fiat weiterhin Bestand haben wird.
Fiat ist ein Experiment mit einer relativ kurzen Geschichte. Und dabei spreche ich nicht von den Geschäftsbanken, die Geld ausgeben. Das wird sich auch in Zukunft nicht unbedingt ändern. Vielmehr meine ich die Basiswerte, auf die die Notenbanken ihr Vermögen aktuell gründen. Erst seit kurzem handelt es sich dabei nicht mehr um Metalle oder ein sonstiges knappes Gut, sondern lediglich um Versprechen auf dem Papier. Und diese Erfindung ist noch keine hundert Jahre alt.
Uns Menschen gibt es aber schon viel länger, und ich glaube, dass sich das wieder auf Bitcoin übertragen wird. Was haben dann die Banken noch zu tun? Sie möchten Ihre Bitcoins bei einer Bank hinterlegen? Nun, sie wird Ihnen etwas sehr Attraktives dafür bieten müssen, nicht wahr? Und damit meine ich: sehr hohe Zinsen. Sie müssen überlegen, ob Sie Ihre Zinsen in Bitcoin erhalten möchten. Meiner Ansicht nach wird sich das gesamte System verändern.
Können es sich Banken leisten, in einem Bitcoin-System Kredite und Einlagen auf die gleiche Weise zu vergeben bzw. zu tätigen? Wahrscheinlich nicht oder wenn ja, wahrscheinlich nur auf eine geringfügig andere Art. Wie schon gesagt: Ich glaube, dass es weiterhin Banken geben wird und sie Geld ausgeben werden. Und natürlich wird es Kredite geben – Menschen werden Kredite aufnehmen und all diese Dinge. Was aber anders sein wird, ist einfach das Paradigma.
MD: 2022 steht vor der Tür. Haben Sie Prognosen für den Bitcoin-Bereich, wie zum Beispiel, auf welchem Kontinent das nächste grosse Bitcoin-Land entstehen wird?
AG: Das ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich gehört dies zu den Dingen, die eintreten, wenn man es am wenigsten erwartet. Hätten Sie das von El Salvador erwartet? Ganz ehrlich? Vor zwei Jahren hatte niemand dieses Land auf seiner “Bingokarte”.
Könnte es die Ukraine oder Kolumbien sein, oder eines dieser Länder, die dies heute signalisieren? Vielleicht … aber vielleicht ist es auch ein Land, an das heute noch niemand denkt.
Ehrlich gesagt, halte ich es für einen aggressiven Schritt, Bitcoin zu einem gesetzlichen Zahlungsmittel zu erklären. Und ich glaube nicht, dass es viele Länder geben wird, die diesen Schritt in naher Zukunft tun werden. Wow, das war nun so etwas wie ein Ausblick auf ein ganzes Jahrzehnt. Regierungen werden aber Bitcoin kaufen und die Kryptowährung irgendwie integrieren … Das lässt sich bereits in Amerika auf Staats- und Stadtebene beobachten, wo Politiker ihr Gehalt in Bitcoin erhalten. Und dieser Trend wird sich einfach fortsetzen und verstärken.
Bitcoin wird meiner Meinung nach im politischen Zyklus 2024 in den Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle spielen. Also, schwer zu sagen.
MD: Alex, vielen Dank für Ihre kostbare Zeit. Wo kann man mehr über Ihre Arbeit erfahren?
AG: Sie können mir unter @gladstein auf Twitter folgen. Oder auch der Human Rights Foundation unter hrf.org. Ausserdem sind wir vom 23. bis 25. Mai im nächsten Jahr beim Oslo Freedom Forum in Norwegen mit dabei. Wir werden eine umfassende Bitcoin Academy anbieten und ich hoffe daher, dass Sie alle kommen können. Für die meisten Europäer ist Norwegen ja nicht so weit. Also, schauen Sie einfach mal vorbei! Vielen Dank.
MD: Vielen Dank, Alex.
Bitcoin Suisse